Zu Gast bei Stefan Weissenbacher auf seinem malerischen Streuobsthof in der Mürztaler Streuobst Region werden Triebe gebändigt und knorrige Bäume frühlingsfit gemacht.
Im Beitrag erfährst du, was die 10 wichtigsten Regeln des Obstbaumschnitts sind und warum sich das Generationenprojekt Streuobstgarten für uns alle lohnt – vom Allergiker bis zur Zwergohreule.
Das wichtigste vorab: „W“ wie Winterschnitt, „W“ wie Wachstum.
Wird ein Baum im Winter geschnitten, fördert das sein Wachstum. Ein Sommerschnitt bremst es.
Mit dieser Eselsbrücke versuchen wir, uns eine der Grundregeln des Obstbaumschnitts einzuprägen. Zum Glück erreichen wir an diesem eisigen Morgen am malerischen Streuobsthof der Weissenbachers gerade die Null-Grad-Marke. Hätte es etwa unter Minus 10 Grad, wäre das Schneiden keine gute Idee. „Dann ruht der Baum und kann seine Schutzschicht gegen Pilze an der Schnittfläche nicht bilden“, erklärt Stefan Weissenbacher. Willkommen in der Welt des Obstbaumschnitts!
Wir durften beim ersten Schnitt des Jahres auf dem Streuobsthof der Familie Weissenbacher im Mürztal dabei sein und alles über die richtige Technik lernen. Dazu kommt auch Katharina Varadi-Dianat von der ARGE Streuobst vorbei. Und mit ihr ein unendlicher Wissensschatz, jahrelange Praxiserfahrung im Baumschnitt und unglaublich viel Energie.
Unter den eifrigen Regieanweisungen der Obstbaumpflegerin steigt nun Karl-Heinz, ein angehender Baumwart, die Leiter auf den für heute auserkorenen Apfelbaum, wo er die nächsten eineinhalb Stunden von Ast zu Ast turnen wird. „Dieser Mann ist wie ein Eichkätzchen“, kommentiert Stefan Weissenbacher und ist froh, die Arbeit heute ausnahmsweise abgeben zu können.
Die 10 wichtigsten Punkte, die es beim Obstbaumschnitt zu beachten gilt:
- Ein Winterschnitt fördert das Wachstum, ein Sommerschnitt bremst es
- Höhenkontrolle geht nicht mit Schnitt, sondern durch die Wahl der richtigen Unterlage und Sorte
- Ein richtig gesetzter Schnitt ist besser als 10
- Von oben nach unten arbeiten
- „Auf Astring“ schneiden: saubere, gerade Schnitte setzen
- Keine „Stummel“ stehen lassen, um Wassertriebe zu vermeiden
- Werkzeug (Baumsäge und Handschere) desinfizieren, um Infektionen des Baumes zu vermeiden
- Leiter gut absichern
- Höchstens 30 % der Äste pro Schnitt abnehmen
- Ausgewachsene, regelmäßig obstragende Bäume brauchen nur alle 3-4 Jahre einen „Erhaltungsschnitt“
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Veranstaltungstipp: Obstbaumschnitt für EinsteigerInnen
Ende Februar und Anfang März 2021 vermitteln "Natur im Garten" und der Naturpark Obst-Hügel-Land in ihren Kursen in Theorie und Praxis die Grundlagen von Schnittführung und -zeitpunkt, Kronenaufbau, Werkzeughandhabung und die Gesunderhaltung von Obstbäumen.
Weitere Informationen und Anmeldung unter diesem Link.
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Der Wert von Streuobstwiesen
Der Baum wächst inmitten einer verwunschenen Streuobstwiese, zwischen Zwetschken-, Kirschen- und Birnbäumen. Nebenan stehen ein paar Kühe und äugen neugierig zu uns herüber. „So ein Baumschnitt ist irre viel Arbeit“, sagt Stefan Weissenbacher. Was früher jeder konnte, ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Viele alte Sorten sind seit den sechziger und siebziger Jahren verschwunden, in den letzten Jahrzehnten stand mehr die Produktionssteigerung im Vordergrund.
Stefan Weissenbacher macht sich für seine Bäume stark: "Ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise bedeutet für uns die 'Grundsätze der Natur' für ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Mensch, Tier und Umwelt einzuhalten und zu respektieren!"
Aber warum tut man sich das an? Und dann gleich 400 Exemplare! Für Stefan Weissenbacher ist das klar. Streuobstwiesen haben einen ungeheuren ökologischen Wert. Sie bieten bedrohten Tierarten wie zum Beispiel der Zwergohreule mit ihren Baumhöhlen einen perfekten Nistplatz. Und auch Fledermäuse, Wiedehopf und Wendehals finden hier alles, was sie brauchen:
- Hochstämmige alte Bäume
- durch Mahd oder Beweidung kultiviertes Grasland
- Hecken und Böschungen
Und natürlich einen reichen Speiseplan, denn Streuobstwiesen locken auch viele Insektenarten wie Wildbienen und Schmetterlinge an.
Zum Glück scheint es langsam ein gewisses Umdenken zu geben. „Ich habe das Gefühl, dass die Wertigkeit von Streuobstgärten wieder steigt“, sagt der Streuobstbauer, „man erkennt den gesundheitlichen Wert von alten Sorten“. Das hat auch mit Allergien zu tun. So hat man etwa entdeckt, dass neue Apfelsorten vermehrt zu Allergien führen, während alte Sorten wie der Bohnapfel oder die Schafnase durch ihren hohen Polyphenolgehalt fast schon antiallergen wirken.
Dem Baum ein Gesicht geben
Aber von der Chemie zurück zur Biologie. Unser Bohnapfelbaum hat die Behandlung schon dringend nötig, der letzte Schnitt ist etwa vier Jahre her. Und in seinem Alter – mit seinen 25 Jahren steht er in der "Blüte seiner Jugend" – sollte er alle drei bis vier Jahre dem sogenannten Erhaltungsschnitt unterzogen werden.
„Einen Baum schneidet man immer von oben nach unten“, erklärt Katharina Varadi-Dianat zwischen zwei Anweisungen an Karl-Heinz, der mittlerweile unglaublich behände in etwa drei Metern Höhe herumklettert.
Sie bittet uns, den Baum ganz genau anzusehen, damit wir die Unterschiede vor und nach dem Schnitt erkennen. Ganz wichtig: den Leittrieb, also die Spitze des Baumes, darf man am Hochstammbaum nie wegschneiden. Er kontrolliert das Wachstum des Baumes und wenn man ihn absägt, würde es unter den anderen Trieben zu einer Art Konkurrenzkampf und unkontrolliertem Wachstum kommen.
Alles ist im Fluss
Ein Baum soll nicht nur wachsen, er soll auch regelmäßig und viel tragen. Und er soll viele Blätter treiben, denn über die ernährt er sich. Katharina Varadi-Dianat schnappt sich jetzt einen der frisch geschnittenen Äste und hält ihn uns unter die Nase. Wir erkennen einen dünnen weißen Rand direkt unter der Rinde. "Das ist das Kambium, die Wachstumsschicht des Baumes", erklärt die Expertin.
Weniger bringt mehr
Und auch Karl-Heinz ist indirekt mit dem Kambium beschäftigt. Er arbeitet den Leitast heraus und bemüht sich, mit seiner zuvor desinfizierten Säge und Handschere schöne, gerade Schnitte zu setzen. „Auf Astring schneiden“, sagen die Profis dazu. Und generell gilt: Lieber wenige, größere Äste schneiden als viele kleine. Damit kommt der Baum besser zurecht. Er hat weniger „Verletzungen“, die er mit seinem Saft heilen muss und damit verringert sich die Gefahr einer Pilzinfektion.
Ein Baum lässt Federn
Katharina Varadi-Dianat umrundet in der Zwischenzeit rastlos den Baum, begutachtet ihn von allen Seiten. Dank der Teamarbeit geht es schnell voran und wir erkennen, wie viel besser der Baum nach dem Schnitt tatsächlich aussieht. Irgendwie luftiger und symmetrischer. Auch wenn Katharina Varadi-Dianat manchmal besorgt zu Stefan Weissenbacher hinüberschaut. Schließlich bedeutet jeder abgesägte Ast weniger Ertrag im kommenden Sommer. Aber langfristig denken zahlt sich aus, und der erfahrene Streuobstbauer weiß das natürlich.
Etwas radikalere Schnitte bringen auf Dauer weniger, aber dafür größere Früchte. Und die wiederum beinhalten mehr Zucker und haben eine bessere Qualität. Das ist gut für Most, Cider, Edelbrand und Essig. „Bis zu dreißig Prozent darf man schon wegnehmen“, sagt die Expertin. Und außerdem wachsen „wir“ sonst in die Zwetschke nebenan.
Nach rund eineinhalb Stunden ist es vollbracht, und wir sehen deutlich, wie viel mehr Luft und Licht der Baum jetzt hat. Das Baumschnitt-Team hat ganze Arbeit geleistet.
Obstbaumschnitt: In Generationen denken
Bevor wir uns auf den Heimweg machen, schlendern wir noch einmal mit Stefan Weissenbacher durch seine Obstwiese. Viele der Bäume hat noch sein Vater gepflanzt. Bei manchen sieht man das auch: Dicke, knorrige, hohle Bäume sind dabei. „Es ist eine Arbeit, bei der man in Generationen denkt.“, sagt er.
Das sei zwar heute nicht mehr so modern, weil man im wahrsten Sinne des Wortes die Früchte der Arbeit erst nach vielen Jahren ernten könne – zahlt sich aber aus. Nicht nur für den köstlichen Most und Saft, sondern auch für die vielen Tiere und Pflanzen, die in der Streuobstwiese leben.
Der Generationenansatz gilt dabei nicht nur für die Bewirtschafter sondern auch für die Bäume. Wer über Jahrzehnte ernten will, muss auch junge Bäume nachsetzen. Für die Sortenerhaltung werden von den alten Bäumen die Reiser zur Veredelung geerntet. Aber: „Alte, hohle Bäume, die vielleicht nicht mehr so viel Ertrag bringen, haben einen enormen ökologischen Wert und gehören zur Streuobstwiese dazu. Sie sollen noch lange stehen bleiben.“ Darüber freut sich auch die Zwergohreule, deren Überleben durch Streuobstwiesen, wie diese Prachtwiese der Familie Weissenbacher, gesichert wird.
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(Die Reportage wurde 2018 erstveröffentlicht)