Wenn man sich ihnen nähert – auch als Artgenosse – wird sofort der fast körperlange Gabelschwanz aufgestellt. Er kann durch Ausstülpungen aus den Schwanzenden sogar noch einmal verlängert werden. Ihren Schwanz hin- und herschwingend drohen sie allem, was sich auf sie zubewegt und verteidigen das Blatt, auf dessen Oberseite sie sich festgesponnen haben, als ihr Revier. Anfangs sind sie dabei so winzig, dass sie das Blatt mit ihren Mundwerkzeugen nur oberflächlich abschaben können.
Niedliches Raupen-„Kätzchen“
Zwei Häutungen später, im dritten Larvenstadium, bekommen die Raupen ein hübsches, grünbraunes Muster. Die beiden Ausstülpungen auf der oberen Kopfkapsel sehen wie kleine Katzenohren aus. Sie klettern geschickt über die Zweige, halten den Gabelschwanz teils geschlossen hoch und drehen ihre Köpfchen hin und her, als wollten sie sich genau umsehen.
Dabei gleichen sie tatsächlich winzigen Kätzchen und lösen damit vor allem bei Kindern Entzücken aus. Sogar mein eineinhalbjähriger Enkel war sofort fasziniert von den kleinen Wesen und nannte sie treffsicher „Miau, Miau".
Hypnotische Warnsignale
Doch dabei bleibt es nicht. Denn mit der letzten Häutung vor der Verpuppung kommt es zur nächsten großen Verwandlung. Die Raupe bekommt plötzlich eine leuchtend rote Umrahmung rund um ihre Kopfkapsel und schwarze Scheinaugen. Ihre Drohgebärde entfaltet nun eine beinahe hypnotische Wirkung. Denn zusätzlich zur auffallenden Zeichnung werden aus dem aufgerichteten, gegabelten Schwanz inzwischen ebenfalls leuchtend rote Fortsätze ausgestülpt, die ein wenig wie Gummibänder aussehen.
Diese vollführen Schlängelbewegungen, so als wollte die Raupe potentielle Angreifer hypnotisieren. Und während andere Raupen oft nur Gefährlichkeit vortäuschen – etwa durch ein spitzes Horn, das einen bösen Stachel nachahmt - sind die Drohgebärden des Gabelschwanzes eine ernstzunehmende Warnung.
Gefährlicher Waffenträger
Wenn ein vermeintlicher Angreifer keine Ruhe gibt, dann wird nämlich zu den Waffen gegriffen. Was damit gemeint ist? Wenn du die Fotos der ausgewachsenen Raupe genau studierst, dann entdeckt du am unteren Rand des roten Kopfringes eine Öffnung, die einem Mund ähnelt. Aus dieser kann sie bei scheinbarer Lebensgefahr ätzende Ameisensäure verspritzen. Und zwar stolze 30 cm weit!
Ich muss jedoch gestehen, dass ich von dieser Gefahr lange nichts wusste, obwohl ich diese Art im Rahmen des umweltpädagogischen Projektes VANESSA schon seit Jahren züchtete. Natürlich setzte ich dabei auch immer wieder einmal Raupen mit der Hand von einem abgefressenen Zweig auf einen frischen, und nie hat eine Raupe dabei ihre Waffe eingesetzt. Ich wollte es deshalb auch nicht glauben, als ich in einem Artikel das erste Mal davon las. Ich dachte an eine vermeintliche Verwechslung mit irgendeiner tropischen Art.
Um meine Annahme zu bestätigen, nahm ich schließlich eine ausgewachsene Raupe zwischen die Finger und zwickte sie ein wenig. Eine Brille wäre dabei allerdings nicht schlecht gewesen. Denn ZACK, war mein Gesicht nass. Gott sei Dank funktionierten meine Reflexe und ich konnte meine Augen gerade noch rechtzeitig schließen. Man sollte die Waffen des Großen Gabelschwanzes also auch als Homo sapiens nicht unterschätzen, wenngleich er seinen kostbaren Säure-Vorrat nur im Falle eines tatsächlichen Angriffs einsetzt.
Ich habe übrigens versucht, die Drohgebärde für dich mit dem Handy einzufangen. Das Video ist zwar nicht perfekt, aber trotzdem eindrucksvoll.
Der Große Gabelschwanz, eine der verwandlungsfähigsten Raupen Österreichs
Scharfes Mundwerkzeug
Wenn die Raupe mit bis zu 8 Zentimeter Länge ausgewachsen ist, färbt sie sich violettbraun und spinnt sich einen Kokon für ihre Überwinterung. Dafür verwendet sie kleine Holzstückchen von dem Ast, auf dem sie sich verspinnt. Diese beißt sie vom Zweig und webt sie in ihren Kokon mit ein. So ist der Kokon vom Ast farblich kaum zu unterscheiden und wunderbar getarnt.
Außerdem ist der Kokon sehr stabil, ja geradezu steinhart. Einmal ist uns eine Raupe ausgekommen, weil sie sich auf der Suche nach einem geeigneten Verpuppungsplatz durch das Aerarium ein Loch gebissen hat. Als wir sie fanden, hatte sie auf der Suche nach Holzstückchen für ihren Kokon bereits ein Loch von einem Zentimeter Tiefe in unseren Parkettboden gefräst. Ihre Mundwerkzeuge sind also auch nicht zu verachten.
Unscheinbare Nachtgestalt
Der Falter schlüpft nach erfolgreicher Überwinterung im Laufe des Aprils. Hierzu weicht er die harte Kokonhülle mit einer speziellen Flüssigkeit auf, um sie verlassen zu können. Jeder, der vermutet, dass sich die außergewöhnliche Raupe des Gabelschwanzes in einen ebenso auffälligen Falter verwandelt, wird jedoch enttäuscht sein. Denn der fertige Schmetterling ist ein grauweißer, eher unscheinbarer Nachtfalter. Lediglich die pelzähnliche Behaarung der Beine ist auffällig. Der Falter kann keine Nahrung aufnehmen. Um sich in der verbleibenden Lebenszeit rasch zu paaren, lockt das Weibchen potentielle Partner mit einem ganz spezifischen Duftstoff beziehungsweise Pheromon an.
Raupen-Leibspeise „Salweide und Zitterpappel“
Es gibt immer nur eine Generation im Jahr. Seine Eier legt das Weibchen gerne auf niedrige Zitterpappeln (Populus tremula) oder Salweiden (Salix caprea) an den Rand sonniger Laubwälder. Und das ist auch mein einziger Tipp, den Falter zu fördern:
Wer einen Garten mit etwas Platz hat, kann Zitterpappeln oder Salweiden an sonniger Stelle anpflanzen.
Diese beiden Baumarten sind zudem nicht nur für den Großen Gabelschwanz, sondern für insgesamt 86, beziehungsweise 101 Raupenarten eine Futterpflanze und somit hervorragend geeignet, um Schmetterlinge im Garten zu fördern.
Der Große Gabelschwanz (Cerura vinula) ist in Österreich und Deutschland an sonnigen, halbwegs feuchten Standorten recht weit verbreitet, leidet aber zusehends unter der Ausräumung der Landschaft, wobei Waldsäume mit niederen Gehölzen leider häufig als unnütz entfernt werden. Aber wo es diese noch gibt, kann man im Mai vielleicht beim Vorbeigehen ein kleines schwarzes Räupchen auf der Blattoberseite beobachten, welches beim genauen Hinschauen seinen gegabelten Schwanz drohend in Position bringt.
Und so beginnt die spannende Metamorphose einer der außergewöhnlichsten Schmetterlingsarten Österreichs von Neuem.
Über die Autorin: Marion Jaros arbeitet als Biotechnologin bei der Wiener Umweltanwaltschaft.