Barbara van Melle ist Obfrau von Slow Food, TV-Moderatorin, Buchautorin und Mutter von vier Kindern. Im Interview mit Maria Schoiswohl spricht sie über den Wert von Lebensmitteln, den Geschmack der Kindheit, absurden Käse und Torten als verlorenes Kultursymbol.

Welchen Wert haben Lebensmittel für Sie?

Ich bin überzeugt davon, dass es nichts Wichtigeres gibt, als Lebensmittel und die Auseinandersetzung damit. In dem Satz „Du bist was du isst“ steckt nicht nur im übertragenen, sondern im eigentlichen Sinn ganz viel Wahrheit. Es gibt kein anderes Konsumgut, das ein Teil von uns wird. Somit liegt es für mich auf der Hand, sich damit genau auseinanderzusetzen.

Haben Sie sich schon immer so intensiv mit Lebensmitteln auseinandergesetzt?

Ich gehöre zu jenen Menschen, die das Privileg hatten, mit einer berufstätigen Mutter aufzuwachsen, die extrem viel Wert auf die Herkunft von Lebensmitteln gelegt hat und vor allem: die kochen konnte. Somit wusste ich von klein auf, wie Lebensmittel wirklich schmecken. Wie es wirklich ist, wenn man sonnengereifte Paradeiser vom Strauch pflückt. Wie es ist, wenn die ersten Äpfel kommen und mit welchen Äpfeln man wirklich guten Apfelstrudel machen kann. Ich habe einfach den Geschmack gelernt und ich bin überzeugt davon, dass man Geschmack lernen muss.

"Ich bin überzeugt davon, dass man Geschmack lernen muss."

Warum?

Sie können den Geschmack der Kindheit, nicht vermissen, wen Sie ihn nie kennengelernt haben. Wie auch? Da ist es egal, ob es die sonnengereiften Paradeiser sind, oder der Burger gegen den Slow Food in seiner Ursprungsgründung angetreten ist – Slow Food als Widerstand zum Fast Food. Gegen einen hervorragenden Burger ist nichts einzuwenden. Wo die Buns gebacken wurden, das Fleisch eine hohe Qualität hat, wo die Paradeiser nach etwas schmecken. Das ist ein hervorragendes Gericht. Doch: Hat man das nie kennengelernt, dann gibt man sich zufrieden mit diesem entsetzlichen, labbrigen, widerlichen Klump der Fast Food-Industrie.

Wie kann man Bezug zum Essen, zum Geschmack in der Gesellschaft fördern?

Es muss so früh als möglich beginnen. In der Küche bei der Mama zu sitzen, wenn sie gekocht hat – diese Erinnerungen ankern uns. Außerdem gibt es mittlerweile viele Krankheiten, die aus unserem Essen resultieren. Wir haben aktuell 450.000 Diabetiker/innen in Österreich, die Dunkelziffer liegt bei 600.000 und in den nächsten Jahren wird das eine Million. Ich finde es deshalb bedauerlich, dass es keinerlei Initiativen gibt, die Essen und Ernährung als gesellschaftliches Thema verankern. Es fängt ja schon im Kindergarten an: Aus Gründen der Lebensmittelsicherheit und Hygiene dürfen in Kindergärten keine selbstgemachten Torten mitgebracht werden. Eine selbstgemachte Torte ist viel mehr als ein Lebensmittel, sie ist ein Symbol für Individualität, für Kultur.

Woher beziehen Sie Ihre Lebensmittel?

Nachdem ich mich viel mit Lebensmitteln beschäftige, setze ich mich auch viel mit den Herkunftsquellen auseinander und beziehe meine Lebensmittel von Produzentinnen und Produzenten, die heute zu Freundinnen und Freunden geworden sind. Ganz wichtig ist mir die Herkunft beim Fleisch. Ich esse wenig Fleisch und finde, dass der Fleischkonsum eines der haarigsten Themen der Erde ist. Nichts belastet das Weltklima mehr als die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion. Beim Fleisch gilt für mich: wenig essen, wenn, dann zu wissen, von wem es kommt und wie es geschlachtet wurde. Mein Schweinefleisch ist etwa Labonca-Fleisch von Norbert Hackl. Sein Biohof hat gerade den Klimaschutzpreis gewonnen.

"Der Fleischkonsum ist für mich eines der haarigsten Themen der Erde."

Was halten Sie von Veganismus?

Ganz ehrlich? Ganz wenig. Ich halte extrem viel davon, dass wir unseren Fleischkonsum überdenken, auch die industrialisierte Tierhaltung. Was ich aber am vegangen Trend kritisiere ist, dass es ein Trend ist und dass viele Dinge dabei passieren, die ich in ihrer Wertigkeit nicht nachvollziehen kann. Ich ernähre mich gerne vegan – in jeder kulinarischen Tradition gibt es vegane Gerichte. Die sind halt immer schon vegan. Aber wenn man sich vegangen Käse ansieht, dann enthält er unglaublich viel Palmöl und Zusatzstoffe, die ich in meinem Leben nicht essen würde. Wo wir uns vor kurzem über Analogkäse empört haben, sind die Menschen plötzlich bereit, vegangen Käse zu essen. Der ist als Lebensmittel für mich die Absurdität schlechthin.

Welche Lebensmittel kaufen Sie im Supermarkt?

Ich kaufe Bio-Lebensmittel im Supermarkt und da lege ich großen Wert darauf, dass sie in Österreich produziert werden. Ich bin aber nicht dogmatisch und esse auch Bio-Orangen. Zu sagen, es darf alles nur einen Radius von 30 Kilometern haben, finde ich nicht zeitgemäß. Und wenn ein Käser in Vorarlberg auf der Alpe mit sieben Tieren seinen traditionellen Bergkäse macht und er ist nicht biozertifiziert, dann brauchen wir da auch nicht reden: Dann ist das ebenfalls ein extrem hochwertiges Lebensmittel.

"Kochen ist ganz viel Autonomie."

Sie kochen auch fast täglich. Was bedeutet kochen für Sie?

Kochen ist eine Überlebensfähigkeit. Ohne Kochen hätte sich die Menschheit nicht so entwickeln können: Man weiß, dass sich das Gehirn nur durch gekochte Nahrung weiterentwickeln konnte. Wir sind also die einzige Spezies, die kochen kann. Und nur wer es kann, kann sich der Industrie entziehen. Kochen bedeutet, sein Leben in die Hand zu nehmen. Es ist ganz viel Autonomie. Zu entscheiden, wie man leben will und was man essen will. Wenn ich das alles nicht mehr kann, bin ich denjenigen ausgeliefert, die für mich kochen.

Wie geht sich das im Alltag für Sie aus?

Wenn ich sage, ich koche täglich, hat das auch mit kochen können zu tun. Ich verwende sehr häufig nicht mehr als eine halbe Stunde darauf. Keine Zeit zu haben, ist ein vorgeschobenes Argument. Bedauerlicherweise leben wir in einer Gesellschaft, die das Kochen verloren hat und zunehmend verliert. Es ist pervers: Kochbücher und -sendungen boomen und gleichzeitig wird im Alltag nicht mehr gekocht. Dabei sehnen sich die Menschen danach. Aber stattdessen sitzen sie vor dem Fernseher, sehen die Kochsendung und essen eine Fertigpizza.

Hintergrund

Barbara van Melle ist Obfrau von Slow Food Wien, TV-Moderatorin, Buchautorin, Unternehmerin und Mutter von vier Kindern. Sie hat die erste Slow Food Travel Region der Welt im Kärntner Lesach- und Gailtal initiert: Seit heuer können Urlaubenden dort mit ausgewählten Lebensmittelproduzentinnen und -produzenten etwa Butter machen. Die teilnehmenden Unterkünfte servieren zum Frühstück ausschließlich deren Produkte.

Van Melles aktuelles Buch heißt „Der Duft von frischem Brot“. Es beleuchtet die österreichische Brotkultur und zeigt Rezepte heimischer Bäckermeister, die „ich nicht korrekturgelesen, sondern korrekturgebacken habe“, sagt van Melle. Aus ihrer Brotleidenschaft heraus hat van Melle auch den ersten österreichischen Bäckermarkt Kruste & Krume ins Leben gerufen. Die nächste Kruste & Krume mit Backshow und Backwettbewerb findet am 18. März 2017 im Kursalon Hübner in Wien statt. Mehr dazu hier: slowfood.wien.

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