Wien ist nicht nur die angeblich „lebenswerteste Stadt“ der Welt, sondern beherbergt auch einen einzigartigen Wald: den uralten Eichenwald am Johannserkogel im Lainzer Tiergarten. Wir haben diesen „Urwald“ Wiens besucht - und vieles dabei gelernt…
Gleich neben dem tosenden Verkehr der Wiener Westeinfahrt breitet sich ein großes Waldgebiet hinter einer massiven Steinmauer aus. Das ehemalige kaiserliche Jagdareal hört auf den Namen „Lainzer Tiergarten“ - was auch trefflich beschreibt, wie das Gebiet die längste Zeit genutzt wurde: nämlich als Wildgatter. Rot-, Reh-, Dam-, Muffelwild und vor allem Wildschweine haben das Sagen. Letztere in beträchtlicher Stückzahl und mit entsprechendem Hunger. Der Fraß von Baumsamen und Jungbäumen macht dem Wald zu schaffen. Aber nicht mehr lange. Doch dazu später.
Das imperiale Jagdrevier beschert der Bundeshauptstadt eine unverrückbare Grenze zum Wienerwald: jenseits der Mauer ist jede Art der Verbauung ein No-go. Also endet Wien hier abrupt. Und das ist gut so. Der stadtnahe Wald sorgt für frische Luft, besseres Stadtklima und freizeitliche Erbauung. Tagsüber öffnen sich mehrere Tore für die Erholungssuchenden.
Eines davon ist das Nikolaitor, nur wenige Gehminuten vom Bahnhof Hütteldorf. Hier starten mehrmals pro Saison nachmittägliche Exkursionen in den „Urwald“ am Johannserkogel. Das wildwüchsige Naturwaldreservat ist durch einen Zaun vor den gefräßigen Waldbewohnern geschützt und kann im Rahmen von Führungen besucht werden.
Hannes Lutterschmied leitet die Forstverwaltung Wienerwald. Er führt uns heute in den verborgenen „Dschungel“ im Lainzer Tiergarten. Vom Nikolaitor geht es über die (asphaltierte) Forststraße in den herbstlich verfärbten Buchenwald. „Hier kann man unten durch den Wald durchsehen,“ erklärt der Förster, “weil hier die Verjüngung fehlt.“ Grund dafür ist das reichlich vorhandene Schwarzwild und Co. Im historischen Jagdgatter wurden hohe Wilddichten lange Zeit nämlich tatkräftig gefördert.
Fraßdruck und Wildregulierung
„Durch ihre Anzahl und den Fraßdruck verändern die vielen Wildtiere derzeit ihren eigenen Lebensraum negativ,“ erläutert er. Der Forst- und Landwirtschaftsbetrieb der Stadt Wien bemüht sich einigen Jahren daher um Abhilfe: „Unser Ziel ist ein ökologisches Gleichgewicht zwischen Lebensraum und Wild. Daher reduzieren wir den Wildbestand schrittweise und kontinuierlich auf ein lebensraumkonformes Maß.“
Um zu ermessen, ob die Maßnahmen die erwünschte Wirkung zeitigen, gibt es ein Monitoring-System zur Vegetationsentwicklung: Wenn vermehrt Jungbäume spriessen und dem Fraßhorizont der Sauen und Hirsche entwachsen, ist das ein gutes Zeichen. Die Wildregulation geschehe effizient und möglichst unter Vermeidung von Tierleid. Eine Orientierung auf Trophäen gäbe es nicht. Auch die Fütterung wird schrittweise reduziert und in 1-2 Jahren beendet.
„Gewisse Monotonieerscheinungen“
Bei einer mächtigen, abgestorbenen Buche legt Hannes Lutterschmied einen Zwischenstop ein. „Die Wälder der Stadt Wien sind, wie der Großteil der Waldbereiche Österreichs, stark menschlich beeinflusst,“ erklärt er. „Das drückt sich augenscheinlich in gewissen Monotonieerscheinungen aus. Für manche sieht der Wienerwald vielleicht wie pure Natur aus. Wer aber wirkliche Urwälder kennt, wird hier wichtige Elemente von Waldökosystemen vermissen.“
Zu einem naturnahen Wald - der Lainzer Tiergarten ist ja als Naturschutzgebiet bzw. Kernzone des Biosphärenparks Wienerwald ausgewiesen - gehören nicht nur angepaßte Wilddichten und natürlicher Jungwuchs sondern auch Merkmale wie standorttypische Baumarten, stehendes und liegendes Totholz oder unterschiedlich alte Bäume.
Die Wiener Wälder wollen mit der Natur und „nicht krampfhaft gegen sie“ arbeiten. „Dafür muss man die komplexen Beziehungen des Systems Wald komplexen Beziehungen des System Wald ein Stück weit verstehen und dann in die Bewirtschaftung integrieren,“ unterstreicht der gelernte Förster.
Aufforstungen seien meist hinfällig, wenn man das vorhandene Potential an Samen und Jungbäumen nutzt. „Das geht aber nur, wenn es nicht zu viele pflanzenfressende Wildtiere gibt.“
Ziel: dauerhaft stabiler Wald
Am besten gelingt die naturnahe Försterei, wenn die Holznutzung nur durch kleinflächige Eingriffe erfolgt: „Das System so wenig wie möglich zu stören und nur geringfügig zu lenken bringt einen dauerhaften Waldaufbau, sprich Dauerwald. Gerade in unserer Branche sollte das generationenübergreifende Denken gegenüber kurzfristigem Gewinnstreben gelten,“ faßt Hannes Lutterschmied das Credo der naturnahen Forstwirtschaft zusammen.
Und wie wird sich das im Wienerwald in 20-30 Jahren bemerkbar machen? „Gewisse Monotonien werden sich auflösen. Ein kleinflächiges Miteinander von Jungbäumen neben Altbäumen wird dann das Waldbild prägen. Totholz als wesentlicher Bestandteil von Waldökosystemen fördern wir bewusst, das wird sich somit anreichern. Die wenigen reinen Kiefernbestände werden von Laubbäumen unterwandert sein.“
Der zukünftige Wiener Stadtwald wird sich also langsam dem Bild eines Naturwaldes wie am Johannserkogel annähern. Womit wir am Zaun des Reservats angekommen wären. Hannes Lutterschmied zückt den Schlüssel und öffnet das Tor.
Zauberwald hinter dem Zaun
Wir betreten eine Anderswelt der riesenhaften Baumgebilde, monströsen Baumleichen und des intensiven Jungwuchses. Hier können die Sauen ja nicht herein. Also spriessen junge Buchen und Hainbuchen, wohin man auch sieht. Besonders heftig ist das Wachstum der Babybäume, wo ein gefallener Altbaum ein Loch im Kronendach hinterlassen hat. Der Wald will diese Öffnung augenscheinlich rasch wieder schliessen, um das kühle Innenklima im Wald zu erhalten.
Die Exkursionsgruppe erreicht die altehrwürdige „Kaisereiche“, einen gewaltigen Baum-Methusalem. Lutterschmied: „Hier gibt es uralte Eichen und einen enorm hohen Anteil an Totholz. Das ist einzigartig in Österreich.“
Ich lerne, dass in Europa über 1.300 Käferarten und 2.500 Pilzarten bekannt sind, die direkt oder indirekt von Totholz abhängen. Hannes Lutterschmide holt Schatullen mit Proben von Eicheln und mit präparierten Käfern aus seinem Rucksack. Viele Totholzbewohner, vor allem die so genannten „Urwaldreliktarten“, sind heute teilweise vom Aussterben bedroht. Sie können oft nur kurze Strecken wandern und brauchen kontinuierlich große, Jahrhunderte alte und absterbende Bäume. Das gibt es in Wirtschaftswäldern nicht, weil die Bäume schon im jugendlichen Alter von 70 bis 150 Jahren gefällt werden.
Untotes Totholz
„Ausreichend Alt- und Totholz im Wald zu belassen, ist daher nicht ‚unordentlich‘ oder gar ‚Verschwendung‘, sondern einer der wichtigsten Beiträge zur Erhaltung von Vielfalt und Funktions- und Widerstandsfähigkeit im Wald,“ schlussfolgert der Stadtförster.
Im Bereich der Wiener Stadtwälder im Wienerwald werden aktuell acht Prozent der Waldfläche sich selbst überlassen. Die Vernetzung dieser Flächen erfolgt über „Einzelaußernutzungstellung“ von geeigneten Bäumen. Im Naturschutzgebiet Lainzer Tiergarten werden mindestens fünf Bäume pro Hektar dauerhaft „ihrem Werden und Vergehen“ überlassen.
Die monumentalen „Urwaldriesen“ am Johannserkogel sind übrigens ausgerechnet der Jagd zu verdanken: „Eichen und Buchen produzieren periodisch eine Unmenge an Samen - eine natürliche Futterquelle für den früher gewünschten hohen Wildstand. Der Johannserkogl hat wegen dem Fraßdruck früher eher parkartig ausgesehen. Erst nach den Weltkriegen verwaldete das Gebiet, weil Hungersnöte zu Wilderei und zur fast gänzlichen Ausrottung des Wildbestandes führten,“ berichtet Lutterschmied.
Der Johannserkogel ist also kein echter Urwald. Aber weit fortgeschritten am Wege dahin. 1972 wurde der Altbestand zum Naturwaldreservat erklärt und teilweise umzäunt. Seit Wild und Sägen draußen bleiben müssen, ist ungehemmtes Wachstum angesagt. „Dieser Wald ist eine Enklave. Manchmal komme ich hierher, um Ruhe zu finden,“ erzählt der Forstleiter lächelnd.
Wald im Klimastress
Doch außerhalb dieses kleinen Paradieses sieht der Wald keinen frohen Zeiten entgegen. Besonders die Klimaerhitzung bereitet Förstern und Waldbesitzern Kopfzerbrechen. Lutterschmied: „Temperatur oder Niederschlag verändern sich. Das kann Wälder gehörig in Bedrängnis bringen. Die Globalisierung sorgt mit eingeschleppten, invasiven Arten für Probleme, wie etwa das Eschentriebsterben.“
Wie damit umgehen? Wenn man die Wälder wieder in Richtung Naturnähe entwickelt, lassen sich diese Störungen durchaus abmildern, meint Hannes Lutterschmied - und verrät seine Zauberformel: die Vielfalt an Arten, Wald-Struktur und Genen durch kleinflächige Eingriffe fördern und gleichzeitig bewusst naturnahe Wälder erhalten, wo es sie noch gibt.
Lehrmeister Urwald
„In der Forstwirtschaft wird vielfach zu einseitig gedacht“, sagt der Förster. Nicht einzelne, „klimafitte“ Baumarten als Fichtenersatz seien die Lösung, sondern eine angepaßte Bewirtschaftung. Weil: Ein Ökosystem ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Und: „Wälder machen ihr eigenes Klima und können viel abpuffern, wenn sie naturnah sind. Daher sollte man dieses Innenklima bei der Holznutzung so wenig wie möglich stören. Große Kahlschläge vernichten dieses Innenklima auf lange Zeit.“
All das ist jedoch nur möglich, wenn es ein ausgewogenes Wald-Wildverhältnis gibt. „Da hapert es auf dem Großteil der heimischen Waldflächen,“ kritisiert er. Naturnahe Bewirtschaftung kann einen Mehraufwand bedeuten, daher sollten die Bewirtschafter dafür auch Unterstützung erhalten.
Als wir uns in Richtung Nikolaitor aufmachen, sagt Hannes Lutterschmied noch: „Dieses Reservat ist für uns sehr wichtig. Naturnahe Waldbewirtschaftung orientiert sich an natürlichen Prozessen. Und die kann man nur in solchen Gebieten erforschen. Der ‚Urwald‘ ist dabei ein wahrer Lehrmeister.“
Die Sonne ist bereits hinter den Horizont geglitten und es dämmert allmählich. Wir haben beim Reden und Staunen die Zeit übersehen. Der Förster schliesst das Tor und schliesst den „Urwald“ wieder ab. Der entrückte Wald hinter dem Zaun mit seinen jahrhundertealten Kreaturen bleibt in der hereinbrechenden Dunkelheit zurück. Finsternis ist auch eine Art Wildnis. Es wird schon kühl. Ab und zu weht der Abendwind Lärmfahnen der nahen Westautobahn herüber. Die modernen Zeiten haben uns wieder. (Autor: Matthias Schickhofer)