Lange besagte der Volksglauben, dass Kinder vom Storch gebracht werden. Doch die echte Lebensweise des Weißstorchs ist noch viel interessanter als seine Legende – von Mehrgenerationsnestern, gewöhnungsbedürftiger Parasitenabwehr bis hin zu schmerzhaften Mitbringseln aus Afrika.
Soviel schon im Voraus: Es hat seine Vorteile, die Gegend des Nationalparks Neusiedlersee-Seewinkel auf dem Radsattel zu erkunden - die Anreise von Wien ist keiner davon. Da sich der Busfahrer weigert, mich mit meinem Rad mitzunehmen, muss es kurzerhand ins Taxi gepackt werden. Wenigstens nickt der Fahrer wohlwollend, als ich erzähle, dass ich zur Bird Experience des Nationalpark Neusiedler See / Seewinkel muss - mittlerweile ein Klassiker unter Vogelliebhabern mit neun Tagen an Exkursionen, Workshops und Vorträgen - und drückt aufs Gas.
Die letzten Kilometer lege ich schnaufend und strampelnd zurück aber schaffe es gerade noch rechtzeitig zur ersten Station der heutigen Exkursion: dem Illmitzer Hauptplatz. Dort, auf den Schornsteinen und Dächern hat sich der Weißstorch einen Horst gebaut und thront in seinem massiven Ästepalast über unseren Köpfen. Manche Nester werden über Generationen hinweg benützt und können einen Durchmesser von zwei Metern und bis zu mehreren hundert Kilo an Masse erreichen. Wenn man ihn so bei der Brut beobachtet, kann man sich gut vorstellen, wieso die Menschen früher glaubten, dass seine Rückkehr aus den Winterquartieren im Süden mit neu erwachtem Leben assoziiert wurde. Und auch, wieso er das Motiv zahlreicher Legenden, Erzählungen und Mythen geworden ist. Als typischer Kulturfolger hat er sich an die Lebensweise der Menschen gewöhnt und nützt diese auch für sich, erzählt Exkursionsleiterin Barbara Kofler während sich die rund 20-köpfige Gruppe mit ihren Fahrrädern rund um sie versammelt.
Turmfalken, Rotbauchunken und Kanäle
Auch andere Vögel hier im Nationalpark sind Kulturfolger. „Wenn er so in der Luft steht, kann man sich eigentlich recht sicher sein, dass es ein Turmfalke ist“, so Kofler. Das Verhalten, auf das sie hinweist wird „rütteln“ genannt. Der Vogel versucht an einem Punkt in der Luft stehen zu bleiben und visiert so Mäuse und andere Beute an.
Bei Bauern weniger beliebt sind Saatkrähen, schwarze, kaninchengroße Rabenvögel, die sich unter anderem von zeitig ausgesäten Saatgut ernähren. Sie würden sogar bemerken, welchen Acker der Bauer gerade bearbeitet und dann in Gruppen einfliegen. Lieber fressen sie jedoch tierische Nahrung, mit der sie auch ihre Jungen füttern und sind dabei wichtige „Schädlingsbekämpfer“.
Bis zu 200 Saatkrähen brüten dabei in Kolonien auf den umliegenden Bäumen. Das kann auch ziemlich laut werden, wie wir selbst bald bemerken. Sie zu verjagen bringt nichts, denn dann verlagern sie sich nur auf andere Orte in der Nähe – Kofler spricht aus Erfahrung.
In gemütlichem Tempo geht es weiter Richtung Grauviehkoppel, vorbei an Äckern und Nationalparkflächen. Knarrende Holzstiegen führen hinauf zu einem Hochstand, von dem aus man bis zum See blicken kann. Wer weiß, vielleicht können wir sogar einen Storch bei der Nahrungssuche beobachten. „Hört ihr das?“ fragt Kofler. Was klingt wie der Wind, der unser Lager zum Schaukeln bringt, ist der Ruf der Rotbauchunke, die man hier in den Kanälen finden kann.
Wozu braucht man diese Kanäle überhaupt? Der See speist sich zu 80 Prozent aus Regen. Vor rund 100 Jahren überflutete er deshalb oft die umliegenden Dörfer, erzählt die Exkursionsleiterin. Man wollte den See trockenlegen, um die Flächen als Acker zu nützen und begann Kanäle zu bauen. Bald merkte man, dass die Böden aufgrund des hohen Salzgehalts nicht geeignet waren – zum Glück. Die Diversität an Vögeln und Pflanzen auf der Fläche des Nationalparks wäre sonst heute nicht so vorhanden. Trotzdem blieben einige Kanäle, die heute die Entwässerung des Sees steuern und die Landschaft stark verändert haben. „Manche Vögel profitieren davon, wie die Kulturfolger“, sagt Kofler. So auch die Störche. Sie suchen gerne Nahrung in feuchten Flächen oder seichten Ufern.
Besoffener Kulturfolger
In der Nähe sehen wir einen zweiten Vogel, der wie ein Betrunkener wirre Flugmuster in die Luft zeichnet. Auch seine runden, fast schmetterlingsartigen Flügel, machen ihn als Kiebitz erkennbar. Er brütet in kurzgrasigen Wiesen, damit er Feinde wie den Fuchs leichter erblicken kann. Einziger Nachteil: Oft verirren sich Kiebitze auf Äcker. „Dann bekommt er ein Problem mit dem Traktor“, so Kofler. Die Naturschutzmaßnahme, um Brutflächen für Vögel wie den Kiebitz durchzuführen, ist anfangs nicht so offensichtlich und präsentiert sich groß, grau und geruchsintensiv.
Graurinder werden quasi als natürlicher Rasenmäher eingesetzt, um das Gras kurz zu halten. Zusätzlich kommen Wasserbüffel zum Einsatz, die im Sommer bis ins Schilf gehen und dieses so auch zurückdrängen. „Man muss nur aufpassen, dass sie die Gelege nicht zertrampeln“, sagt die Exkursionsleiterin. Dennoch profitiert die Artenvielfalt von der natürlichen Beweidung ungemein.
Die Storchsichtung bleibt hingegen erfolglos, nur sein Futter kriecht in Form einer kleinen Ringelnatter über den Weg. Auf dem Weg Richtung Apetlon, dem nächsten Ort, werden wir mit weiteren Infos gefüttert: „Der Storch frisst eigentlich alles, was in seinen Schnabel passt.“ Neben Ringelnattern sind das vor allem Frösche, Würmer, kleiner Säugetiere und Insekten, die er oft aufgescheucht von Traktoren fängt. 500 bis 700 Gramm Futter braucht ein Storch pro Tag. Das entspreche etwa 500 Regenwürmern oder 15 Mäusen. Junge Störche benötigen sogar das dreifache. Wenn man bedenkt, dass in guten Jahren bis zu 5 Junge im Horst sitzen, kann man sich vorstellen was für einen Arbeitsaufwand das für die Storcheneltern bedeutet. Es bestimmt außerdem, wo die Horste gebaut werden – Stichwort Kulturfolger.
Insgesamt finde man zehn Prozent des österreichischen Storchbestands hier am Neusiedlersee. Das sind etwa 400 Brutpaare. In der Ferne erspähen wir eine storchartige Silhouette. Je näher wir kommen, desto sicherer sind wir uns: Wir haben ihn gefunden. Entspannt schlendert er die Straße entlang und senkt ab und zu seinen Kopf Richtung Boden auf der Suche nach Futter. Selbst als wir mit unseren Rädern langsam vorbeifahren, rührt er sich zuerst nicht und fliegt dann nur ein paar Meter weiter in das angrenzende Feld. Im Flug erkennt man deutlich, dass seine Beine einen leicht weißlichen Glanz haben, als ob er Strümpfe trägt. Später im Sommer werden sie ganz weiß sein, erklärt Barbara Kofler. Sie koten ihre Beine an, um sich vor Parasiten zu schützen und sich zu kühlen. Für uns eine wohl eher gewöhnungsbedürftige Methode.
Vom Leben eines Mythos
Störche sind Thermiksegler und nützen warme Aufwinde, weswegen sie ihre Zugroute genau wählen müssen. Die Zugscheide erstreckt sich für die einen via Spanien, für die anderen (wie die Störche hier am Neusiedler See) geht sie via den Bosporus und endet in den östlichen Teilen Afrikas. Berge und Meere werden so umflogen. Jungtiere starten alleine etwas früher, ohne ihre Eltern und das, obwohl sie den Weg noch nie geflogen sind. Nach dem ersten Mal merken sie sich dann bereits Teile der Landschaft, Bergketten und gewisse Küstengebiete. Bei den älteren merke man im August eine Art „Zugunruhe“, die einen baldigen Abflug vermuten lassen. Drei bis vier Wochen sind sie dann unterwegs und man kann hoffen, dass der Storch (der in Europa in die höchste Schutzkategorie fällt) nicht Opfer von Stromleitungen, Bahnmasten oder Windrädern wird.
Zum Ende der Exkursion erwähnt Kofler dann noch den vermutlich interessantesten Fakt des Tages: Störche sind nicht nur aufgrund ihrer Lebensweise so faszinierend, sie haben auch einen maßgeblichen Beitrag zur Lösung rund um das Rätsel des Vogelzugs beigetragen: Lange dachte man, dass Vogelarten, die im Winter nicht mehr aufzufinden waren, in Gewässer überwinterten oder sonstige Absurditäten vorhatten. Erst als man einen sogenannten Pfeilstorch fand (ich empfehle an dieser Stelle auf den Link zu klicken) und erkannte, dass dieser Pfeil aus einem Gebiet Afrikas stammte, wurden die ersten Theorien rund um den Vogelzug aufgestellt. Später dann auch wissenschaftlich bewiesen. Wer glaubt nun noch immer nicht, dass der Storch ein lebender Mythos ist?
Übrigens: Es lässt sich statistisch zeigen, dass die Anzahl der Kinder mit der Anzahl an Störchen zusammenhängt. Doch das liegt vermutlich auch daran, dass es in ländlichen Gegenden meist eine höhere Geburtenrate gibt als in Städten – und Störche dort schlichtweg häufiger ihre Nistplätze wählen.
Autorin: Katharina Kropshofer
Den Lebensraum des Nationalparks Neusiedler See-Seewinkel kann man auch noch an anderen Gelegenheiten mit dem Fahrrad erkunden:
Mit dem Fahrrad durch die Zitzmannsdorfer Wiesen
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