„Dem Gletscher-Hahnenfuß wird es bei uns zu warm. Der kann sich nicht einfach die Jacke ausziehen“, sagt Harald Pauli. Der Klimaexperte leitet das Beobachtungsnetzwerk und Forschungsprogramm Gloria, das mit nationalen und internationalen Experten weltweit an ökologischen Klimafolgen forscht. Gloria hat sich auf die Auswirkungen des Klimawandels auf Ökosysteme in Gebirgen und ihre Artenvielfalt spezialisiert.In Österreich ist Pauli mit Gloria etwa am Hochschwab und im Nationalpark Gesäuse unterwegs: „Die einzigartigsten Pflanzen wachsen nicht in den höchsten Gebieten, etwa am Großglockner, sondern in den Randgebieten der Alpen.“ Die Österreich-Soldanelle, Sauters Felsenblümchen oder die Clusius-Schafgarbe zum Beispiel. „Die meisten Gebirgsarten wachsen nur dort, wo der Wald aufhört. Die Fläche oberhalb des Waldes ist aber nicht wahnsinnig groß. Diese Arten sind deshalb viel stärker gefährdet als andere – sie können nicht einfach weiter den Berg hinaufwandern. Da ist es dann aus“, erklärt Pauli.
Diesen Engpass an Raum für Gebirgspflanzen nennt die Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 die „Biodiversitätsfalle im Gebirge“.
Und der Raum dort wird enger: Klimamodelle halten einen Temperaturanstieg für den Alpenraum von bis zu fünf Grad für möglich – noch innerhalb dieses Jahrhunderts. Gleichzeitig können die Niederschlagsmengen um bis zu zehn Prozent zurückgehen. Wetterextreme – von Orkanen bis zu Dürrezeiten – sind zu erwarten.
Am eindrücklichsten zeigt sich die Erwärmung der Erde im alpinen Gebiet an den Gletschern: In den letzten hundert Jahren sind sie um rund 50 Prozent geschrumpft.„Der Klimawandel macht vor keinen Grenzen halt", sagt Pauli. Er forscht seit den 90er-Jahren zum Klima in den Bergen. Dafür kann er auf Aufzeichnungen aus dem frühen 19. Jahrhundert zurückgreifen. Sein Befund: Jene Arten, die Spielraum haben, wandern in die Höhen, andere vermehren ihre Population, wenige verschwinden. Liegt der Fokus von Pauli und dem Gloria-Netzwerk auch auf Pflanzen, beeinflusst die Veränderung im Lebensraum natürlich auch die heimischen Alpentiere.
„Säuger und Vögel sind zu mobil, um das Ambiente der Natur anzuzeigen. Interessanter sind Bodentiere“, erklärt Pauli. Bei einer Untersuchung am Schrankogel im Ötztal hat man sich etwa Hornmilben näher angesehen und auf bis zu 3300 Höhenmetern eine Vielzahl an Arten entdeckt. „Eine davon ist ein Eiszeitrelikt, das dort noch lebt“, sagt Pauli. „Das hat sich bis jetzt halt noch niemand genauer angesehen.“ Ob es den Hornmilben in der Höhe mittlerweile auch zu warm ist, kann man somit nicht konkret sagen.
Die Berge sind Lebens-, Erholungs- und Wirtschaftsraum – gleichzeitig schützen sie den Menschen vor Gefahren.
So verhindert der Bergwald in den Alpen massive Erdbewegungen oder Felsabgänge. Solange es nicht zu warm wird. „Die Hochzonen werden langfristig unstabiler“, warnt Pauli. Dort, wo das Eis der Permafrostböden auftaut und wieder gefriert. Vor allem für Gletscherregionen wie die Hohen Tauern, das Zillertal, die Stubaier und Ötztaler Alpen oder die Vorarlberger Silvretta ist das ein Thema. „Da kann es zu Frostsprengungen kommen. Man nimmt an, dass das eine wichtige Ursache für verstärkte Hangrutschungen und Felsstürze ist“, so Pauli.
Der Österreichische Alpenverein fördert den österreichischen Schutzwald mit seinen Bergwaldprojekten. Seit 2002 packen Freiwillige an, um den Wald zu pflegen und seine Biodiversität zu erhalten. Sie pflanzen Bäume, stellen Schutzzäune auf oder befreien Pflanzen von Gehölz. „Die Teilnehmer sind Menschen, die gerne in den Bergen sind, ein Zeichen setzen wollen, dass sie die Natur und die Arbeit der Bauern schätzen und dass der Berg nicht nur eine Sportkulisse ist“, sagt Peter Kapelari, stellvertretender Generalsekretär und Leiter der Bergwaldprojekte. Bis zu 20 Personen arbeiten für ein Projekt – oft in ihrem Urlaub – eine Woche lang am Berg.
Naturschutz ist seit Anbeginn Teil der Alpenvereinsarbeit.
Bereits 1882 gab es erste Aufforstungsprojekte und in einer Erklärung von 1923 verpflichtete man sich, die Erschließung der Wege und Errichtung der Hütten als abgeschlossen zu sehen. „Seitdem geht es um den Erhalt der Hütten und Wege“, sagt Kapelari. Eine Ausnahme bilden Klettersteige, bei denen man mit Tourismusgebieten mit einem strengen Kriterienkatalog zusammenarbeitet. „Die ursprüngliche Idee des Alpenvereinsgründers Franz Senn war schon der Tourismus. Die touristische Nutzung der Berge sollte das Leben in den Tälern nachhaltig sichern. Heute geht es aber um mehr“, sagt Kapelari. „Wir wollen den Tourismus deshalb nicht abschaffen. Wir wollen ihn nachhaltig fördern.“
Der Tourismus ist – neben den Wetter- und Klimaveränderungen – ein großer Einflussfaktor auf den Lebensraum in den Alpen. Vor allem im Winter.
Wanderer, Kletterer, Mountainbiker suchen im Sommer ihre Erholung am Berg, unzählige Schneesportlern sind im Winter unterwegs. Obwohl die Schneefallgrenze seit 1950 um 100 Metern nach oben gestiegen ist und die Winter Jahr für Jahr milder werden, investieren manche Regionen nach wie vor in den Ausbau ihrer Skigebiete.
Eine Krux – immerhin ist der Tourismus ihr Wirtschaftszweig Nummer eins. Schneesicherheit ist aber erst ab einer Höhe von ca. 1200 Metern gegeben und viele Skigebiete in Österreich liegen niedriger. Prominentes Beispiel ist Kitzbühel, das auf nur 800 Höhenmetern zum Skizirkus lädt. „Der Skisport ist nicht mehr der, der er vor 20 Jahren war“, sagt Klimaexperte Pauli. Brachten einst nur Lifte die Menschen auf die verschneite Piste, muss heute oftmals zuerst der Schnee auf die Piste gebracht werden. „Der Wasserverbrauch und der Energieverbrauch sind hier enorm. Das kurbelt natürlich wiederum den Klimawandel an“, sagt Pauli.
Aber auch die Urlaubenden sind zum Umdenken angehalten.
Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln statt mit dem Auto. Flugreise nur ab einer längeren Aufenthaltsdauer statt für den Kurztrip. Bewusster Konsum regionaler Produkte statt exotischer Gerichte in der Berghütte. „Man sollte in den Alpen eine Art des Tourismus wählen, die nicht zu viele technische Hilfsmittel braucht“, schlägt Pauli vor. „Gletscherskifahren im Sommer ist vielleicht nicht die richtige Verhaltensweise, um den Klimawandel zu verhindern.“
Beschäftigt der Klimawandel die Menschen auch ungemein – für die Erde und somit auch für unsere Berge ist er nichts Neues.
Eiszeiten und Erderwärmungen haben in der Vergangenheit das Klima immer wieder verändert. Hervorgerufen durch Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche wurden Aussterbewellen ausgelöst, die der Mensch niemals überlebt hätte. Neu ist in unserer Zeit der menschengemachte Einfluss, der – laut einer aktuellen Studie des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung – mit seinem erhöhten CO2-Ausstoß sogar die nächste Eiszeit um 50.000 Jahre verzögert und einen kompletten Eiszeitzyklus überspringt. Für den Gletscher-Hahnenfuß auf den heimischen Alpen bedeutet das wohl nichts Gutes. Er wächst aktuell ab rund 2300 Metern in den Bergen und hat somit noch Raum in kältere Regionen zu wandern. Sich also "die Jacke auszuziehen". Die Frage ist: Wie lange noch?