Der Naturpark Karwendel umfasst beinahe das ganze Karwendelmassiv und weist eine Größe von 727 km2 auf. Damit ist das Karwendel das größte Schutzgebiet in Tirol und der größte Naturpark Österreichs. Damit das auch noch länger so bleibt, wurde in der Gründungsurkunde von 1928 der Grund für das Schutzgebiet explizit wie folgt definiert: „Zum Schutz vor touristischer Ausbeutung“.
Der Naturpark Karwendel eignet sich hervorragend, um den Geheimnissen, erstaunlichen Anpassungen und Überlebensstrategien der Tier- und Pflanzenwelt auf den Grund zu gehen. Gemeinsam mit Naturparkführer Volker Ried wandern wir rund um die Karwendelschlucht.
Auf Schritt und Tritt zeigt er uns Besonderheiten, kleine und große Sensationen und mit jedem Meter schärft sich auch unser Blick für die Natur.
Wasser braucht Platz
Entlang der hier noch jungen aber zurzeit viel Wasser führenden Isar, die im Hinterautal entspringt, geht’s gemütlich taleinwärts. Dieser Abschnitt der Isar gehört zu den weniger als 10 % aller Flüsse in Österreich, die sich noch wie ein echter Wildfluss benehmen dürfen, sich ausbreiten können, ihre Ufer ständig verändern und neu gestalten dürfen. Volker weist auf die Schotterflächen, das Wasser der Isar hat Platz.
„Drei Täler, das Karwendeltal, das Hinterautal und das Gleirschtal kommen jeweils mit ihren Bächen in Scharnitz zusammen, aber der Ort kennt kein Hochwasser.“
Indikator in Insektenform
Den Flussuferläufer, der gelegentlich an der Isar brütet und seine Eier direkt auf die Schotterbänke legt, sehen wir heute nicht, dafür aber ein anders Tier, das direkt aus dem Wasser kommt: Es hat sechs Beine und drei Schwänze, lebt zwei Jahre als Jungtier im Wasser und – falls es nicht vorher von einer Wasseramsel gefressen wurde - nur einen einzigen Tag als adultes Tier ohne Mundwerkzeuge an der Luft. Volker Ried löst schließlich das Rätsel: „Das ist eine Eintagsfliegenlarve. Sie kommt ausschließlich in Bächen der Güteklasse I vor – also Trinkwasser und ist damit ein guter Bioindikator“.
Vorbei am Libellenlarventümpel, wo wie es Volker ausdrückt: „die reinsten Horrorfilme gedreht werden können,“ und meint damit die Libellenlarven, die sich Kaulquappen krallen und aussaugen, erreichen wir die Mündung des Karwendelbaches in die Isar. Hier zweigen wir ab und steigen durch den lichten Wald am Rande der tief eingeschnittenen Karwendelschlucht auf.
Schlucht im Kalkstein
Immer wieder erhaschen wir einen Blick in die Schlucht mit ihren geschichteten Kalksteinwänden, die vor rund 180 Millionen Jahren am Meeresboden entstanden sind und sich vor rund 50 Millionen Jahren durch die Plattenverschiebung aufgeworfen haben. Heute hat sich der Karwendelbach tief in den Felsen gefressen und bildet eine beeindruckende Klamm, in der die Kraft des Wassers unüberseh- und unüberhörbar ist.
Beeindruckend ist aber vor allem auch die Tatsache, dass hier und in der Gleirschklamm noch bis in die 60er-Jahre Holztrift betrieben wurde. Das Museum am Parkplatz Länd in Scharnitz erzählt unter anderem die Geschichte dieses gefährlichen und kräfteraubenden Handwerks.
Wald der Extreme
Obwohl der Karwendelbach wie die Isar vom Schmelzwasser angeschwollen ist und wir sein Rauschen bis zu uns herauf hören können, wandern wir auf sehr trockenem Boden. Die Föhren haben es uns verraten, denn sie wurzeln extrem tief und sind äußerst trockenresistent. Jedenfalls kommen sie mit Trockenheit wesentlich besser zurecht als die Fichte, die hier zwar auch vorkommt, aber eigentlich nicht ihren Lieblingsstandort besetzt. Ihre ursprüngliche Heimat ist der hohe Norden, sie wurzelt flach und kommt mit hohen Temperaturen nicht gut zurecht. Zudem sehen wir kaum Naturverjüngung, also Jungpflanzen von vor allem Ahorn, Buche, Esche oder auch der Tanne.
„Die ideale Wilddichte für den Wald wäre ein Stück Rot- oder Rehwild pro Quadratkilometer.“
Erst auf einem ebenen Stück Boden finden wir zwei bereits recht stattliche Buchen. Hier kann sich offensichtlich Wasser sammeln und steht den Bäumen zur Verfügung, die immerhin pro Tag unfassbare 300 Liter brauchen.
Gewiefter Specht
Einer, der versteht, wie man seinen Tisch deckt, ist der Specht. Ob Bunt- oder Schwarzspecht, ersterer erkennbar an runden Fresshöhlen, der andere an großen, länglich-ovalen Höhlen, beide lieben stehendes Totholz, aus dem sie Borkenkäfer, Würmer und Ameisen holen. Die entstehenden Fresshöhlen weisen dabei einen äußerst praktischen Nebeneffekt auf:
„Rund um die Fresshöhle fließt Baumharz aus. Insekten bleiben darauf kleben und der Specht braucht nur noch alle paar Tage vorbei zu kommen und sie aufzupicken.“
Apropos Ameisen
Wir finden einen großen Ameisenhaufen. Wie immer zeigt die glatte Seite direkt nach Süden. Den unterirdischen Teil, der dreimal so groß ist, wie jenen, den wir sehen, können wir nur erahnen. Schon mal die Hand auf einen aktiven Ameisenhaufen gelegt? Die Ameisen verteidigen sofort und sprühen Ameisensäure. Der intensive Geruch fährt in die Nase, hat aber auch noch eine andere Wirkung: „Der Specht beispielsweise setzt sich mit ausgebreiteten Flügeln auf den Ameisenhaufen und lässt sich einsprühen. Die beste Methode, um Ungeziefer im Federkleid loszuwerden!“.
Alles im Blick
Es ist warm, die Sonne steht Anfang Juni schon hoch über den Bergen. Für die großen Alpenbewohner sind wir definitiv zu spät aufgestanden. Sie sind vor allem in der Früh aktiv, wenn der Tau noch auf den Gräsern glitzert. Dank Volkers vorzüglicher Ortskenntnis, Ferngläsern und Spektiv erhaschen wir aber dennoch einen Blick auf ein kleines Gamsrudel am Fuße der Felswand, das offensichtlich Siesta hält.
Am Ende der Wanderung – wir sind wieder bei der Mündung des Karwendelbaches in die Isar – zeigt er sich doch noch: der Steinadler. Zwischen 21 und 24 Paare brüten immerhin im Karwendel und stellen damit die höchste Dichte an Adlern im gesamten Alpenraum dar. Auch nach fünf Stunden hat Volker immer noch eine Sensation auf Lager:
„Der Blick des Adlers ist so scharf, er könnte aus 70 m Entfernung in einem Buch lesen“.
Aber auch unser Blick ist geschärft: Am Wegesrand finden wir das Fettkraut, eine pflanzenfressende Pflanzenart, die Silberwurz auf der Schotterbank der Isar kennen wir schon und dass Flechten gute Luft anzeigen, wissen wir spätestens seit heute auch.
Selbst aktiv werden!
Wenn auch du Lust hast, mit offen und wachen Augen durch die Natur zu gehen, von ihr zu lernen und Zusammenhänge zu erkennen, dann melde dich am besten gleich für die nächste „Nature Watch“-Wanderung an: